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Es war einmal eine kleine Schnecke. Sie schneckte so vor sich hin, so wie alle Schnecken das tun. Und natürlich zog sie eine schönschleimige Schleimspur hinter sich her, so wie alle Schnecken. Nichts besonderes also an dieser Schnecke und kaum nötig von ihr erzählen, wenn da nicht …

Wie so viele andere Märchentiere auch, beschloss die kleine Schnecke eines Tages in die große weite Welt zu ziehen, um ihr Glück zu suchen. Es war ihr zu einfach nur eine Schnecke zu sein und vor allem zu wenig, nur eine Schnecke unter vielen zu sein – immer im selben Karree herumschneckend, immer eine ähnliche Schleimspur zie-hend, immer dasselbe Haus mit sich herumschleppend.

Es gab wohl Gerüchte über ein paradiesisches Leben in einem Land namens Frank-reich, in dem angeblich die Schnecken in der Welt eine ganz andere, eine viel größere Bedeutung erfahren. Aber auch diese ewigen gleichen Geschichten langweilten die kleine Schnecke. Sie wurden stets morgens an irgendwelchen langweiligen Salatblät-tern erzählt, nach denen man oft schrecklich schleimigen Durchfall kriegte, wegen dieses komischen Granulats der Menschen.

„Das kann doch nicht alles gewesen sein“, dachte sie und packte eines Morgens ihr Bündel: Einen kleinen Salatblattrest, ein bisschen Löwenzahn und schon ging es los.

Gleich im nächsten Garten traf die Schnecke einen kleinen Löwen mit einem Knopf im Ohr. Der Löwe guckte sehr traurig, denn er lag schief im Rasen und war wohl vergessen worden. „Du Löwe“, fragte die Schnecke, „warum hast du denn einen Knopf im Ohr?“ „ Ach“, sagte der Löwe „eigentlich wollte ich ja keinen Knopf, aber man hatte mir erzählt, dass die Menschen damit wunderschöne Musik hören können und da habe ich mich überreden lassen.“ „Und?“, fragte die Schnecke. „Na, nix!“, sagt der Löwe. „Ich höre nix und der kleine Junge, dem ich gehöre, hat mich im Gar-ten liegen lassen. Ich finde das sehr komisch.“
„Du?“, fragte die Schnecke. „Kennst du dich aus in der Welt? Weißt du, wo ich mein Glück finden kann?“ „Glück?“, fragte der Löwe? „Glück? Was ist denn das?“ Na ja – was sollte die kleine Schnecke denn darauf antworten? Schließlich wusste sie es ja selber nicht so genau. „Weißt du“, sagte sie mit sehr liebevoller Stimme, weil der Lö-we so traurig guckte, „wenn ich es gefunden habe, dann bringe ich dir ein Stück davon mit.“

Also zog sie weiter, sehr bedächtig, denn sie hatte viel nachzudenken. Und mehrere kleine Viertelstunden später traf sie eine rostige Gartenschere, die unter einem blü-henden Ranunkelstrauch lag. „Du“, fragte die kleine Schnecke sehr vorsichtig, denn sie wusste nicht so ganz genau, wie man mit rostigen Gartenscheren umgehen soll, „weißt du vielleicht, wo ich mein Glück finden kann?“
Die Schere antwortete nicht. Sie lag einfach nur so da und rostete vor sich hin. Gartenscheren können nun mal nicht sprechen und rostige schon gar nicht. Aber das konnte die kleine Schnecke nicht wissen, denn sie war wirklich sehr klein und war ja gerade erst aufgebrochen, die Welt zu entdecken. Sie wartete ein Weilchen, weil sie gelernt hatte, dass man gerade vor älteren Geschöpfen viel Respekt haben muss. Besonders, wenn sie vielleicht ein bisschen länger brauchen. Nach einigen Viertelstündchen räusperte sich die Schnecke und murmelte leise: „Na ja, ich bringe dir auf jeden Fall ein Stückchen Glück mit.“ Eigentlich fand sie die Schere doof und arrogant, aber sie dachte bei sich, dass bestimmt der Rost die Schere erst dazu gemacht hatte.

Also kroch die Schnecke neben einen Apfelbaum und da sie durch die viele Fragerei sehr großen Hunger bekommen hatte, fraß sie auf einen Haps ihren gesamten Vor-rat auf.

Mittlerweile hatte es zu regnen begonnen, was den Schnecken nicht so viel aus-macht, weil sie ja sofort in ihr Haus kriechen können. Also schlief die kleine Schne-cke ein bisschen und sie träumte wie noch nie. Sie träumte von riesigen Feldern und Wiesen und von einer gewaltigen Wasserfläche. Sie träumte von schrecklichen dunklen Schatten und von Herden von grauen Schnecken ohne Häusern, die alle stumm in eine Richtung zogen. Im Traum versuchte sie die Schnecken anzuspre-chen, aber sie zogen nur stumm weiter.

Als der Regen nur noch ganz leise auf ihr Haus trommelte, beschloss sie weiterzu-kriechen. Sie war sehr durchgefroren und vor allem sehr traurig – nicht nur durch die komischen Träume, sondern auch, weil sie sich so fürchterlich alleine fühlte zwischen diesen ganzen seltsamen Dingen und Pflanzen – einsam und verlassen. Und ein bisschen bereute sie ihren Entschluss in die Welt zu ziehen.

Plötzlich huschte ein Schatten vorbei, so schnell, dass die Schnecke gerade mal „HEH!“ hinterher rufen konnte, so laut wie eben kleine Schnecken rufen können. Der Igel kam sofort zurück. Es war ein ausgesprochen neugieriger Igel und sehr hinter ungewöhnlichen Dingen her. „Was willst du?“, fragte er barsch, sich leicht hinter dem Ohr kratzend, denn er war voller kleiner Igelläuse, die über die Unter-nehmungslust des Igels sehr begeistert waren, weil sie wirklich sehr viel erlebten in ihrem kurzen Läuseleben. „Weißt du“, sagte die Schnecke ein bisschen eingeschüch-tert. „Ich suche mein Glück und weiß überhaupt nicht, wo ich anfangen soll und was das ist.“ Der Igel war Gott sei Dank nicht in Wirklichkeit barsch und hek-tisch, sondern hatte ein großes Herz und war sehr einfühlsam. Das kann man ja schon daran merken, dass er die Schnecke nicht gleich aufgefressen hat – immerhin für Igel ein wichtiger Leckerbissen. Er hörte und spürte, dass die kleine Schnecke sehr weinerlich war und deshalb wurde er sofort sehr freundlich und antwortete: „Glück? – Na weißt du! So genau weiß ich das auch nicht, aber die Menschen, die reden ständig vom Glück. Geh doch mal zum Haus!“ Wuusch war der Igel schon weitergezogen, ein bisschen vorangetrieben von seinen Läusen, die solche Gespräche absolut langweilig fanden.

Das machte der Schnecke natürlich erstmal große Hoffnung. Die Menschen schienen sowieso sehr viele Antworten auf sehr viele Fragen zu haben. Also, nix wie los! Kaum hatte sie sich hinter dem Eingang angeschleimt ging auch schon die Tür auf. Au backe, wie schnell diese Menschen reden und gehen konnten und wie schwer das war, irgendetwas von diesen Menschendingen zu verstehen. Aber da war es wieder und immer wieder tauchte es auf und sie hatte es schon früher gehört in den Schne-ckengesprächen der Alten über die großen Weltdinge. Dieses Wort schien nicht nur Tiere zum Verstummen zu bringen, sondern auch die Menschen sehr zu beschäftigen: GOLD! Und irgendwie schien es so, also ob die Menschen ständig und immer eine unsägliche, unglaubliche Schnelligkeit und Hektik entwickelten und meist ging es wohl um Gold.

Es war der Schnecke auch schnell klar, dass diese lauten und schnellen Maschinen in die die Menschen ständig stiegen, damit zu tun haben. In Ihrer Aufgeregtheit und schon ein bisschen wackelig auf der Schleimspur – sie hatte sich schon lange keine Zeit mehr genommen, etwas zu essen – klebte sie sich ohne viel Nachdenken an einen dieser schwarzen drehenden Teile an der Menschenmaschine und eh sie sich versah, klappten Türen auf und zu und kaum konnte sie Luft holen, so schnell drehte sie sich plötzlich im Kreis.

Lange Zeit konnte sie sich mühsam an diesem Autoreifen fest halten, sehr schlecht war ihr vor Dreherei und von diesem Gestank und dem Lärm und natürlich vor Angst – so allein und so wagemutig und so ungewiss die Zukunft und so unklar das Ziel.

Nach vielen, vielen Viertelstunden und kurzatmigem, verkrampften Festschleimen, war sie schon fast ausgetrocknet und völlig am Ende ihrer Kraft. Sie merkte, dass ihre Suche nun wohl am Ende angekommen sei, dass sie sich zu viel zugemutet hatte. Sie hatte die guten Ratschläge der alten Schecken „Schnecke, bleibe bei deinem Schleim!“ in den Wind geschlagen und musste wohl jetzt einen hohen Preis bezahlen für ihre Neugierde und ihre Sehnsucht. Sie dachte noch einmal an ihren Heimatgarten und ließ dann einfach los.

Die kleine Schnecke wirbelte herum, drehte sich tausendmal und kullerte, wie durch ein Wunder unbeschadet, zwischen all den rasenden Autos, quer über die Straße in den Sand.

Viel Zeit verging und sicher hätte ein kleines Schnecken-EKG kaum noch ein Lebens-zeichen aufzeichnen können. Aber dennoch war da eine unsagbare Lebenskraft in der kleinen Schnecke und so wachte sie ganz früh morgens auf, geweckt von den ers-ten Sonnenstrahlen. Sie blickte auf, blinzelte und wusste sofort, dass sie das Gold ge-funden hatte, denn die Sonne erstrahlte das Meer, ließ es funkeln und glänzen, spielte mit den Wellen, warf kleine Sonnensterne in die Gischt. Immer wieder rauschten die goldenen Wellen an den Strand, von kleinen Regenbögen durchflutet. Sie erkannte die große Wasserfläche aus ihrem Traum und sie konnte die Schönheit kaum fassen. So viel Ruhe war in dieser Größe und doch so viel Bewegung.

Sie musste ihren Blick abwenden, stumm und demütig und da sah sie, dass die Son-ne auch ihre Schleimspur golden erstrahlen ließ und da erkannte sie, dass sie ihr Ziel erreicht hatte. Sie hatte das Glück gefunden und ihren Platz in der Welt. Und sie sah, dass das Glück bei ihr selbst war, dass sie es nur bei sich finden konnte und nicht in unbekannten Fernen. Ein tiefes Glücksgefühl überflutete sie und ihr kleines Herz wurde riesengroß.

08’2000